Die Ausrichtung des Weide-Gebets: Christlich - Kontemplativ - Charismatisch - Sozial

Willibald Sandler (Okt. 2011; aktualisiert: Nov 2012)

1. Christlich

Christlich ist die „Weide“ vor allem durch die zentrale Ausrichtung auf Jesus Christus. Eines der häufigsten Gebete in der Weide lautet: „Alles in deine Hände“: Ich vertraue mich Dir, Jesus an. Meine Pläne und Sorgen gebe ich dir ab, – zumindest jetzt, in dieser Gebetszeit. Und so werde ich frei, deine Liebe zu empfangen.

„In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.“ (Ps 31,6)

Viele, die neu in die „Weide“ kommen, suchen nur einen Ort der Ruhe, der Entspannung und des Friedens. Sie haben noch kein persönliches Verhältnis zu Jesus. Ein Gebet wie „Alles in deine Hände“ würde sie überfordern. Aber sie brauchen es auch nicht mitzubeten. So wie sie sind, sind sie in der Weide willkommen. Man kann einfach dasitzen oder daliegen und die Atmosphäre einer liebevollen Offenheit genießen.

In der Weide fängt alles mit Loslassen und Empfangen an. Auch für feurige Beter gilt: Komm erst einmal an, werde ruhig! Sprich und tu nur, was du im Herzen spürst! Das gilt auch für die Leiter der Weide-Gebetszeiten. Sie nehmen zwar Verantwortung für die Anwesenden wahr, aber nicht direkt. Niemals versuchen sie, durch ein Programm von Gebeten und Liedern für gute Stimmung zu sorgen oder sich direkt um Besucher zu kümmern, die vielleicht unzufrieden wirken. Die Weide-Begleiter schauen zuerst auf Jesus Christus und legen alles in seine Hände, auch ihre Sorge um das Wohl der Besucher. Die innige Verbindung zu Ihm macht sie feinfühlig: für die richtigen Gebete und Lieder, und für die richtige Weise, auf andere zuzugehen und für sie zu beten.

„Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können.“ (Röm 8,2)

 

Wurzeln in der katholischen Kirche und ökumenische Offenheit

 

Die Weide ist aus dem Beten katholischer Christen entstanden. Aber wichtige Anstöße empfingen wir von nichtkatholischen Mitchristen. Diese Anstöße haben uns gegenüber der katholischen Kirche nicht entfremdet, sondern unsere Liebe und Wertschätzung zu ihr vertieft. Die Erfahrung des lebendigen Gottes überwindet die Gräben zwischen den Konfessionen. Und zwar nicht einfach so, dass bestehende Unterschiede verwischt werden. Vielmehr werden wir tiefer in das Eigene geführt und gerade so offen für die anderen. Für jede christliche Kirche gilt: Das Tiefste, das man in ihr finden kann, ist nicht ihre konfessionelle Unterschiedenheit, sondern eine innige Verbindung zu Gott durch Jesus Christus und im Heiligen Geist. Und so gilt: Die größere Tiefe ist zugleich die größere Weite: nicht nur gegenüber anderen Konfessionen, sondern gegenüber allen Menschen, auch aus anderen Religionen und ohne Bekenntnis. Wer Gottes Liebe tiefer erfahren hat, wird bereit, die Spuren seiner Herrlichkeit überall zu finden und nimmt sie von jedem Menschen dankbar auf.

 

„Der Herr führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen.“ (Ps 18,20)

Von daher steht die Weide allen Menschen offen, die eine Sehnsucht nach etwas Tieferem und Erfüllenderem haben. Katholische, evangelische, freikirchliche und ostkirchliche Christen kommen ebenso wie Menschen, die sich als kirchenfern verstehen. Wie eine Schafweide ist die Weide vielstimmig. Es machen nicht alle dasselbe. Und so ist es möglich, dass ein Katholik seine Herzensbewegung in ein Mariengebet ausdrückt, auch wenn evangelische Christen anwesend sind, die damit Probleme haben, Gebete an Maria auszudrücken. Im Vertrauen, dass der eine Gott verschiedene Menschen verschieden führt, können Gebetsformen von anderen anwesenden Christen zugelassen werden, die man selber nicht teilen würde, ohne dass man dabei mitmachen muss.
„Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.“ (Joh 10,14-16)

2. Kontemplativ

In unserer lauten, hektischen Welt gibt es immer mehr Menschen, die sich nach den ruhigen Formen eines kontemplativen Betens sehnen und sich darin einüben. Das Wort „kontemplativ“ bedeutet „anschauend, betrachtend“ und meint ein inneres Beten in achtsamer Stille. Diese Ausrichtung des Betens ist auch für das Weide-Gebet wesentlich: wie Maria, die Schwester Martas, zu den Füßen Jesu sitzen und ihn anschauen (Lk 10,39). Oder mit einem Psalmwort:

„Ich ließ meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir“ (Ps 131,1).

Deshalb gibt es im Weide-Gebet auch immer wieder Phasen der Stille. Manchmal bezeugen Weide-Besucher, dass gerade in diesen ruhigen Zeiten Gottes Gegenwart am stärksten spürbar war.

Mit den stillen Zeiten und dem entspannten Liegen auf Decken ähnelt die Weide verschiedenen Formen der Meditation. Dabei versuchen wir nicht, uns an einen göttlichen Energiestrom anzukoppeln, sondern wir suchen die Begegnung mit Gott als einem liebenden Du. Diese Liebe erfahren wir oft als einen belebenden Gnadenstrom, den wir aber nicht direkt anzielen.

„Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit [das heißt um Gott selbst] gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33)

Deshalb gibt es auch keine Technik des Weide-Gebets. In den wöchentlichen Lehrabenden werden aber Hilfen vermittelt, wie wir uns der Liebe Gottes gegenüber tiefer öffnen können. Diese „untechnische“, personale Ausrichtung hat das Weide-Gebet mit verschiedenen Formen des christlichen kontemplativen Gebets gemeinsam. Charakteristisch für das Weide-Gebet ist der niederschwellige Einstieg: Man muss sich nicht in bestimmte Körperhaltungen einüben, sondern sucht einfach eine bequeme Position und wird in den Phasen der Stille oft durch eine ruhige Musik unterstützt.

 

Soaking-Gebet

In der Weide gibt es Zeiten, wo wir das Licht zurückdimmen und uns in eine noch tiefere Entspannung begeben. Die meisten Teilnehmer holen sich Decken und legen mit dem Rücken auf den Boden. Diese Zeiten sind frei von lautem Gebet und werden häufig durch eine ruhige Musik begleitet – live oder von der Stereoanlage –, die in einem Geist der Anbetung komponiert und gespielt wurde. Dabei bieten Weide-Begleiter ein segnendes Fürbittgebet an, das begleitet wird von einer sanften, kaum spürbaren Handauflegung, meistens auf der Schulter. Für manche Besucher sind das Zeiten einer sanften, langsam sich vollziehenden inneren Heilung. Gottes Gnade wird wie ein heilender Regen erfahren, der in der Seele langsam nach unten sickert, und verhärtete Schichten unseres Herzens aufweicht. Diese Form des Betens haben wir in einer freikirchlichen kanadischen Gemeinde kennengelernt, wo sie als Soaking-Gebet bezeichnet wird (engl. to soak = aufweichen, durchtränken).

„Jetzt aber höre, Jakob, mein Knecht, Israel, den ich erwählte. So spricht der Herr, dein Schöpfer, der dich im Mutterleib geformt hat, der dir hilft: Fürchte dich nicht, Jakob, mein Knecht, du, Jeschurun, den ich erwählte. Denn ich gieße Wasser auf den dürstenden Boden, rieselnde Bäche auf das trockene Land. Ich gieße meinen Geist über deine Nachkommen aus und meinen Segen über deine Kinder. Dann sprossen sie auf wie das Schilfgras, wie Weidenbäume an Wassergräben.“ (Jes 44,1-4)
„Der Herr wird dich immer führen, auch im dürren Land macht er dich satt und stärkt deine Glieder. Du gleichst einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser niemals versiegt.“ (Jes 58,11)

3. Charismatisch

Wenn aus der Stille heraus Gott unsere Herzen bewegt, dann machen wir mit. Wenn ich Dankbarkeit oder eine Sehnsucht oder eine Not verspüre, dann drücke ich das auch aus: in freien Worten, einem Bibeltext, einem Lied oder einer Geste (zum Beispiel erhobene Hände). Dieser Ausdruck gilt nicht den Mitbetenden, sondern Gott. Deshalb kann ich mich in meinem Ausdrücken ganz einfach halten. Gott weiß, was ich ihm sagen will. Er verlangt keine geschliffenen Worte, keine gute Gesangsstimme und keine Tanzbegabung. Gott braucht keine perfekte Darbietung, sondern nur meine Bereitschaft, mit dem mitzumachen, was er in mir bewegen will. Und je einfacher und unmittelbarer das ist, was ich in Wort, Körperhaltung oder Gestik ausdrücke, desto besser kann ich mich von Ihm führen lassen. Das gilt auch für unser Singen von Liedern. Deshalb singen wir Lieder oft langsam und mit vielen Wiederholungen. Und manchmal lassen wir uns aus einem geformten Lied oder Text (z.B. aus der Bibel) in ein freies Improvisieren in Text und Melodie führen. Dieses frei geführte Anbeten setzt oft machtvolle Erfahrungen der Gottesgegenwart frei.

In diesem Zusammenhang ist für viele das Sprachengebet oder die Zungenrede, wie sie in Pfingstbewegungen und der charismatischen Erneuerung praktiziert wird, hilfreich. Es ermöglicht ein ganz unmittelbares Mitmachen mit Herzensbewegungen, ohne dass erst geeignete Worte gesucht werden müssen.

Im spontanen, aktiven Mitmachen mit erfahrenen Herzensbewegungen ähnelt das Weide-Gebet dem Beten, wie es in der charismatischen Erneuerung vorkommt. Zugleich ist es in einem kontemplativen, hörenden Beten verankert. Von daher achten wir sehr darauf, dass Lobpreis oder Anbetung niemals gemacht wird. Und auch das charismatische Beten – in Lobpreis, Zungenrede oder Heilungsgebet – beginnt häufig leise und sanft. Es kann aber auch sehr kraftvoll werden, aber ohne dass es jemals „gepuscht“ würde.

 

Murmelgebet

Charakteristisch für dieses sanfte Beten in der Weide ist eine Form, die wir Murmelgebet nennen. Freies Beten oder auch Sprachengebet wird oft halblaut praktiziert. So kann ich meine Situation auch mit vielen Worten vor Gott bringen, ohne dass das für andere unverständlich, indiskret oder ermüdend wäre. Bei halblautem Beten stimmen oft andere mit eigenen halblauten Gebeten ein. Dadurch ergibt sich eine „murmelige Atmosphäre“, in der es leicht fällt, sich in freiem Beten und Mittun (mit erfahrenen Herzensbewegungen) auszudrücken.

 

4. Sozial

Wer zu den Füßen Jesu sitzen bleibt, um auf Ihn zu hören, wird von Ihm in eine innigere Gemeinschaft mit anderen Menschen geführt, und zwar über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg. Diese Erfahrung konnten wir in den vergangenen Jahren im Weide-Gebet immer wieder machen. Ohne ein ausdrückliches soziales Anliegen waren wir einfach für jeden offen, der in die Weide kommen wollte. Es kamen Junge und Alte, Reiche und Arme, Intellektuelle und weniger gebildete Menschen. Und es kamen auch psychisch Kranke, Suchtkranke und Obdachlose. Dabei wurden wir manchmal an unsere eigenen Grenzen geführt. Und wir mussten riskieren, dass Menschen wegblieben, weil sie sich mit bestimmten anderen Besuchern zu schwer taten. Bei alldem spürten wir immer wieder Gottes Willen, dass wir die „Belasteten und Belastenden“ nicht wegschicken durften.

„Als die Schriftgelehrten, die zur Partei der Pharisäer gehörten, sahen, dass er mit Zöllnern und Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mk 2,16-17)

Inzwischen kommen unterschiedlichste Menschen in die Weide. Die Kranken und Obdachlosen sind uns besonders ans Herz gewachsen. Alle zwei Wochen feiern wir zusammen mit Pfarrer Andreas Tausch im Weide-Gebetshaus eine Eucharistiefeier, bei der Arme und Obdachlose ganz besonders willkommen sind. Bei der Eucharistie und dem nachfolgenden Essen ist das Empfangen ein Gegenseitiges. Wir spüren tief die Würde und Schönheit von Menschen, deren Lebensgeschichte von Scheitern, Leid und Ablehnung gezeichnet ist. Und so empfangen wir Befreiung von Fixierungen auf unsere alltäglichen Probleme und tun uns leichter, auch uns anzunehmen, wie wir mit all unseren Schwächen und Unvollkommenheiten sind. Nicht selten empfingen wir von Menschen, die nach den Gesetzen dieser Welt nicht viel zu geben haben, große Gnade, sodass wir dem Wort aus dem Hebräerbrief aus ganzem Herzen zustimmen können:

„Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2)