... dass das so ist, hängt mit dem Auftrag zusammen, aus dem vor über fünf Jahren die Weide entstand, und an den wir uns immer wieder erinnern: "Betet und lasst dabei die Tür offen!" Wer dann kam und blieb, waren oft Menschen, die aus einem stürmischen Leben mit manchem Zusammenbruch einen Ort des Friedens und der Stärkung suchten, den sie dann in der Gemeinschaft mit Christus und miteinander vor dem himmlischen Vater fanden.
Liebe Weide-Freunde,
vor eineinhalb Jahren mieteten wir den Viaduktbogen 114 und führten im Sommer 2012 einen aufwendigen Umbau durch. Inzwischen ist das Weide-Gebetshaus für viele Menschen zu einem Ort des Friedens und der geistlichen Stärkung geworden. Einige kommen täglich, andere jede Woche oder gelegentlich. Für nicht wenige, die wir nur selten sehen, ist es wichtig zu wissen, dass es einen Ort gibt, an dem sie jederzeit willkommen sind.
Zugenommen hat im vergangenen Jahr der Besuch bei den Morgengebetszeiten. Anschließend sitzen wir beim Frühstück beisammen, wie eine Familie, allerdings mit wechselnden und höchst unterschiedlichen Angehörigen.
An den Freitagabenden gibt es Lehrimpulse mit Austausch. Letztes Jahr hatten wir einige Schwerpunkte, die sich über mehrere Wochen hinzogen, darunter: Gottes Stimme hören und das Wirken des Heiligen Geistes in der Apostelgeschichte. Manchmal gab ich Impulse zu aktuellen Themen, wie das Apostolische Schreiben über die Evangelisierung von Papst Franziskus oder zu dem Fragebogen, den auch unsere Diözese in Vorbereitung auf die kommende Bischofssynode zur Familie verteilte. Dabei ging es um eine Auseinandersetzung mit dem katholischen Verständnis von Familie, Ehe und Partnerschaft. Ich habe noch lebhaft in Erinnerung, wie sehr sich dieser Abend von ähnlichen, wie ich sie von Bildungshäusern kenne, unterschied. Als ich ein Zitat aus einem kirchlichen Dokument vorlas, wurde ich von einem obdachlosen Besucher unterbrochen, der sich über die abgehobene Sprache ärgerte und dann davon erzählte, wie ihn seine Frau verlassen hatte und wie es ihn – einen bayrischen Katholiken und ehemaligen Ministranten – schockierte, als sie aus der Kirche austrat. „Man tritt doch nicht aus der Kirche aus wie aus einem Verein!“. Mit viel Selbstkritik sprach er über seine Lebensgeschichte und gab dabei ein berührendes Glaubenszeugnis. Mit dabei war auch ein pensionierter Arzt mit viel Erfahrung zu diesem Thema, weiters eine Frau aus der Freikirche, die bezeugte, wie Gott ihre Sehnsucht nach einer gesegneten Beziehung beantwortete; weiters ein Mann, der davon erzählte, wie ein befreundetes Paar es trotz massivster Probleme psychisch und mit Drogen geschafft hatten, einige Jahre zusammenzuleben, bis die Beziehung ausgerechnet dann scheiterte, als sie sich den verbindlichen Schritt zu einer kirchlichen Ehe gewagt hatten. Weiters war ein junger Franziskanerbruder dabei, der eigentlich einen gehaltvollen Vortrag hören wollte, sowie auch einige Menschen in geregelten Beziehungen. Zwischen diesen so unterschiedlichen Personen entspann sich ein Austausch, der mehr war als Reden über ein Thema. Es war eine Zeit der Begegnung über gesellschaftliche Gräben hinweg.
Schaut man sich die Menschen, die das Gebetshaus besuchen, mit ihrer großen Verschiedenheit an Voraussetzungen und Erwartungen von außen an, könnte man meinen, das kann nicht gut gehen. Und doch ging es nicht nur gut, es war – bis jetzt – eine leichte Last. Fast immer ging ich gestärkter aus dem Gebetshaus raus als ich reingegangen bin, trotz Leitungsverantwortung. Dasselbe gilt für Hanna und andere aus dem Leitungsteam. Und das, obwohl der Prozentsatz von Besuchern, die man aus einer gewissen Perspektive als psychisch belastet bezeichnen würde, sehr hoch ist. Dass das so ist, hängt mit dem Auftrag zusammen, aus dem vor über fünf Jahren die Weide entstand, und an den wir uns immer wieder erinnern: Betet und lasst dabei die Tür offen. Wer dann kam und blieb, waren oft Menschen, die aus einem stürmischen Leben mit manchem Zusammenbruch einen Ort des Friedens und der Stärkung suchten, den sie dann in der Gemeinschaft mit Christus und miteinander vor dem himmlischen Vater fanden.
So steht folgendes Wort Jesu sozusagen im Stammbuch des Weide-Gebetshauses:
„Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mt 9,12-13)
Allerdings hat dieses Jesus-Wort für uns einen besonderen Akzent bekommen: Es ist nicht so, dass wir als die Gesunden gerufen wären, den Kranken zu helfen. Als vergleichsweise Reiche sind wir nicht zu Gebern berufen, um Jesus zu den Armen zu bringen. Nicht wir, er ist der Arzt. Und nicht selten empfangen wir Ihn neu und vertieft von denen, die Jesus in unser Gebetshaus schickt.
Vor einigen Tagen ergab sich ein Gespräch zu dritt. Mit dabei war eine feinfühlige Frau, die seit längerer Zeit täglich in die Weide kommt, obwohl sie nach eigener Aussage nicht an Gott glauben kann. Offenbar hat sie hier eine Atmosphäre gefunden, die ihr gut tut. Der Dritte war ein etwas scheuer Mann, der sich oft schwer mit dem Reden tut, und der eine harte Geschichte mit Drogen und Obdachlosigkeit hinter sich hat. Er hat mir einmal erzählt, wie er in äußerster Trostlosigkeit, während eines Entzugs, in eine Kirche geflüchtet war und dort Frieden gefunden hatte. Nun sagte die Frau, mit der ich manch kluges Gespräch über Gott und Christus geführt hatte, lakonisch zu mir: „Er hat mich mehr überzeugt als du.“
Das konnte ich gut verstehen. Wenn dieser musikalische Mann die Gitarre nimmt und in freien Worten zu Jesus betet oder singt, dann spürt man einen Unterschied, der sofort berührt. Manche Menschen, die einmal am Abgrund gestanden sind und von dort aus bei Jesus Zuflucht genommen, von ihm Rettung erfahren haben, beten anders. Beten ist für sie mehr als eine Pflicht oder eine schöne Erfahrung, – es ist ihr Rettungsanker, Lebens- und Überlebensmittel. Diesen Unterschied hört man. Da klingt etwas mit, das gutbürgerlichen Mittelklasse-Christen gewöhnlich verschlossen bleibt. Wie die Frau zu mir sagte: „Wenn Menschen, denen es gut geht, und die alles haben, von Gott reden, dann überzeugt mich das nicht.“
Arm sind vor Gott nicht die Menschen, die in unserer Gesellschaft als erfolglos oder gescheitert abgestempelt werden, sondern jene, die sich in ihrem Wohlstand abgeschnitten haben vom „Geschenk der Armen“. Das gilt auch für weite Bereiche unserer Kirche. Papst Franziskus weiß davon und schärft uns die Offenheit für die Armen immer wieder ein.1
So empfange auch ich von diesem Mann. Er ist sehr beliebt in verschiedenen christlichen Gruppen und lässt sich nirgendwo festhalten. Manchmal ist er monatelang verschollen, dann ist er auf einmal wieder da, nimmt seine Gitarre, singt, betet – und schenkt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wie es ihm geht – vor allem in den Zeiten seiner Abwesenheit – das weiß niemand. Auch nicht, wie viel er von unserer Gebetsgemeinschaft empfängt. Es wird schon etwas sein, sonst würde er nicht immer wieder kommen. Aber was wir wissen ist, dass wir Empfangende sind, weil Jesus sich uns durch ihn schenkt.
Dass sie nicht nur Gaben empfangen, sondern Geschenk sind, gilt auch für andere „Arme“, die unser Gebetshaus regelmäßig besuchen: unauffällige, fromme und ordentliche Menschen, die auch einem Beruf nachgehen, aber in einer Weise psychisch belastet wird, dass das alltägliche Leben für sie zeitweise unerträglich wird. Einige von ihnen treffe ich über das Weide-Gebet hinaus regelmäßig zur geistlichen Begleitung. Ich stütze sie in Gebet und Gespräch und bin damit vordergründig ein Gebender. Aber gerade dort, wo Besserungen nur sehr langsam erfolgten, stieß ich immer wieder an meine eigenen Grenzen. Und dadurch habe auch ich anders beten gelernt: „Herr, komm und hilf du, ich brauche dich. Ohne dich kann ich hier gar nichts machen.“
Gelernt habe ich dabei, einfach nur das, was bei den Mitmenschen, für die ich bete, da ist – an Leid und Bitterkeit, an Traumatisierung und körperlichen Zuständen – gemeinsam mit ihnen Jesus hinzuhalten. „Jesus, ich will mich aufmachen, ich will das zulassen, damit du da hineingehen kannst“. Für die Betroffenen eröffnet sich so die Möglichkeit, unheilvolle Situationen einerseits zuzulassen und andererseits nicht daran kleben zu bleiben. Langsam öffnen sie sich, damit Jesus hier „hineingehen“ kann. Und damit entsteht dort, wo vorher Blockade war, ein Fluss. Wie ein Blutkreislauf, der zwischen dem eigenen Herzen und dem Herzen Jesu zirkuliert. Auf diese Weise beginnt Reinigung, Befreiung, Erlösung. Nach und nach wird der Sumpf im eigenen Inneren trockengelegt.
So erweist sich auch für Menschen, die schwere Lasten zu tragen haben, das Grundgebet der Weide als Weg zur Heilung: „Jesus, alles in deine Hände – alles aus deinen Händen“.
Willibald Sandler
Anmerkungen
Kommentar schreiben
Hermine (Samstag, 17 November 2018 09:49)
Ich möchte eine Begegnung mit unserem Herrn.