Jesus führt uns mit dem Vaterunser in einen radikalen Perspektivwechsel. Vergiss zunächst einmal all deine Sorgen, deine Pläne. Schau nicht auf deine Situation in einer Welt voller Sonnen- und Schattenseiten. Wende deinen Blick und schau auf Ihn, den Schöpfer von Himmel und Erde, den Vater Jesu Christi, und erkenne ihn als deinen dich liebenden Vater ...
Liebe Weide-Freunde,
zuerst möchte ich mit euch meine tiefe Berührung teilen, die der neue Papst in mir hervorgerufen hat. Allein schon, dass wir jetzt einen „Papst Franziskus“ haben, ist ein Faktum, das mir noch ganz unvorstellbar vorkommt. Noch gestern Nachmittag wäre eine solcher Gedanke für mich wie Träumerei und Utopie gewesen. Mit diesem Namen hat er ein starkes Zeichen für unsere Kirche gesetzt, und mit seinem ersten Auftreten hat er dieses Zeichen kraftvoll unterstrichen: Wie er schweigend, schlicht und in großer Ruhe am Balkon vor hunderttausend Menschen stand, das hat mich tief berührt. Spürbar wurde für mich: Wenn wir ganz einfach unserem Herrn Jesus Christus nachfolgen, dann macht es keinen Unterschied, ob wir vor zwei Menschen stehen oder ob die ganze Welt zuschaut: Es gilt nur, das zu tun und das zu sagen, was Er von uns will. Ohne Ambitionen, ohne große Gesten.
Das Zeichen, das ich wahrgenommen habe, ist: Die Kirche wird sich der Armen besinnen: und zwar nicht nur als Aufgabe, sondern als Geschenk. In Gestalt der Armen, der Draußenstehenden, klopft Jesus bei uns an und will mit uns Gemeinschaft haben (Offb 3,20). Sind wir bereit, ihm die Tür aufzumachen? Das ist auch ein Ruf für die Weide. Wie können wir ihm folgen?
Nun zum eigentlichen Thema dieses Rundbriefs: Die Weide ist auch eine Schule des Gebets. Nicht nur an den Lehrabenden jeden Freitag. Mehr als ein Lehrender bin ich ein Lernender in diesem Gotteshaus. Oft sind die täglichen Gebetszeiten auf das Wesentliche reduziert: wenn wenige Menschen im Raum sind und Gott nicht unsere Lippen öffnet, nicht zu Gebet und nicht zu lautem Gesang. Dann bleibt es still im Raum. Und es fehlt, was oft gut tut: dass man von der Atmosphäre einer lebendigen, betenden und musizierenden Gruppe nach oben getragen wird. Auch das kennen wir in der Weide, aber manchmal fällt aller äußerer Anhalt weg und man erfährt sich zurückgeworfen auf das nackte Du zu Du, im Blick auf den Gekreuzigten. Wir haben nicht viele Regeln für das Weide-Gebet. Aber eine wurde uns mit großer Sicherheit „von oben“ gegeben: Wenn wir keinen Eindruck haben zu beten und zu singen, dann dürfen wir kein Programm machen, um die Anwesenden zufrieden zu stellen! Manchmal ist das eine Versuchung, wenn die Gitarre neben einem liegt und der Kopf voll ist von klugen Gedanken. Aber in der Weide dürfen wir die Menschen nicht mit Selbstgemachtem abspeisen. Gewiss zählen für Gott auch unsere Talente und unser Engagement. Aber im Gebetsraum will der Heilige Geist der Dirigent sein. Wenn Er den Einsatz gibt, dann darf und soll man alles, was man kann und vorbereitet hat, einsetzen. Aber erst dann.
Am Anfang dieses Jahres waren ein Großteil der Weide-Leitung verreist. Eine Frau kam zum ersten Mal in die Weide zum Morgengebet. Es wurde eine Dreiviertelstunde Gebet zu zweit, sehr schlicht und mit viel Stille. Während dieser Zeit rührte Gott das Herz der Besucherin so an, dass sie viele Tränen vergoss. Seitdem kommt sie fast jeden Tag.
Worauf kommt es beim gemeinsamen Beten an? Nicht auf eine tolle Atmosphäre im Raum, nicht auf mitreißenden Lobpreis und auch nicht auf ein erhebendes Gefühl. Was wirklich zählt, ist der reine Blick auf Jesus Christus, und vermittelt durch ihn auf den himmlischen Vater.
Wie wir mit Jesus beten können
Einmal baten die Jünger Jesus: „Herr, lehre uns beten“. Diese Bitte ist erstaunlich, denn Juden wissen, wie man betet, von klein auf. Aber die Jünger hatten gesehen, wie Jesus betete, und da wollten sie nur noch beten können, wie er betet.
„Jesus betete einmal an einem Ort; und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten ...“ (Lk 11,1)
Wie hat Jesus gebetet? Wir wissen es nicht genau. Aber was wir wissen ist, dass Jesus ein ganz inniges Verhältnis zu seinem himmlischen Vater hatte. In der Weide singen wir oft das Lied:
„1. Vater, ich komme jetzt zu Dir,
als Dein Kind lauf ich in Deine Arme.
Ich bin geborgen, Du stehst zu mir, lieber Vater.
Refrain: Vater bei dir bin ich zuhause,]
Vater bei Dir berge ich mich
Vater, bei Dir finde ich Ruhe,
o mein Vater, ich liebe dich.
2. Vater, Du gibst mir, was ich brauch,
Du empfängst mich mit offenen Armen.
Du füllst all meine Sehnsucht aus, lieber Vater.
Refrain: Vater bei dir bin ich zuhause ...
Kann Jesus so gebetet haben? Ich denke, ja. Gott war für ihn „Abba“ – Papa. Bei Ihm war er, der in der Welt kein Zuhause hatte (vgl. Lk 9,58) daheim, so dass er ganze Nächte einsam im Gebet verbringen konnte. Aus diesem innigen Verhältnis zu seinem Vater empfing er alle Weisheit und alle Vollmacht.
Gott, der Herrliche und Allmächtige – unser Vater
Dieses innige und zugleich ermächtigende Verhältnis zu seinem Vater will Jesus den Jüngern – und uns – weitergeben, indem er uns das Vaterunser schenkte.
„Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme ...“ (Lk 11,2)
Seither sind wir Christen es gewohnt – leider allzu sehr gewohnt –, Gott Vater zu nennen. Das ist aber alles andere als selbstverständlich, es ist das Erstaunlichste, Unvorstellbarste. Denn es ist Gott, den wir Vater nennen dürfen.
Wer oder was ist Gott?
Es ist hilfreich, dazu auf eine der großen biblischen Gottesoffenbarungen zu schauen. Zum Beispiel vom Seher Johannes auf der Insel Patmos. Nehmen wir uns Zeit, um im folgenden Text nachzuspüren, was er an der Grenze des Sagbaren beschreibt:
„Danach sah ich: Eine Tür war geöffnet am Himmel; und die Stimme, die vorher zu mir gesprochen hatte und die wie eine Posaune klang, sagte: Komm herauf, und ich werde dir zeigen, was dann geschehen muss. 2 Sogleich wurde ich vom Geist ergriffen. Und ich sah: Ein Thron stand im Himmel; auf dem Thron saß einer, 3 der wie ein Jaspis und ein Karneol aussah. Und über dem Thron wölbte sich ein Regenbogen, der wie ein Smaragd aussah. 4 Und rings um den Thron standen vierundzwanzig Throne, und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste in weißen Gewändern und mit goldenen Kränzen auf dem Haupt. 5 Von dem Thron gingen Blitze, Stimmen und Donner aus. Und sieben lodernde Fackeln brannten vor dem Thron; das sind die sieben Geister Gottes. 6 Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall. Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten. 7 Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. 8 Und jedes der vier Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen. Sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht, und rufen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; er war, und er ist, und er kommt.“ (Offb 4,1-8)
Es ist Gott, der die ganze Welt erschaffen hat, der alles was ist zusammenhält: die Erde, die Weite des Kosmos, in Aufgang und Untergang, vom Anfang bis zur Vollendung. Er ist es, der in unfassbarer Herrlichkeit thront, so dass jeder, der es sieht, zur Beschreibung die Sprache brechen muss. Einer der aussah wie Jaspis und Karneol, wie Edelsteine? Es braucht Augen, über und über (vgl. Verse 6 und 8), um Seine Herrlichkeit erfassen zu können. Und wer sie sieht, beginnt selber zu brennen, so dass er gar nicht mehr anders kann als unablässig zu rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung“.
Und dieser Gott, vor dessen Herrlichkeit Heilige zu Tode erschrecken und wie tot zu Boden fallen (Offb 1,17), den dürfen wir Vater nennen: Papa!
„Vater, ich komme jetzt zu Dir, als Dein Kind lauf ich in Deine Arme ...“
So führt uns Jesus mit dem Vaterunser in einen radikalen Perspektivwechsel. Vergiss zunächst einmal all deine Sorgen, deine Pläne. Schau nicht auf deine Situation in einer Welt voller Sonnen- und Schattenseiten. Wende deinen Blick und schau auf Ihn, den Schöpfer von Himmel und Erde, den Vater Jesu Christi, und erkenne ihn als deinen dich liebenden Vater!
Das Reich Gottes ist nahe gekommen
Dieser Botschaft Jesu liegt seine zentrale Lehre vom Gottesreich zugrunde:
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15).
„Kehrt um“ heißt wörtlich: meta-noeîte, d.h. „Ändert euren Sinn“, oder: Gebt der Ausrichtung eures „Nus“, d.h. eurer Vernunft – mit Verstand und Willen – eine neue Orientierung. Für Menschen, die Jesus begegnet sind, ist das möglich. Denn Jesus hat ihrem Blick einen neuen Horizont eröffnet; – weil in Seinem Wort, seinem Tun und seinem Sein Gottes Reich am Anbrechen ist. Wörtlich: „Die Königsherrschaft Gottes ist angebrochen“ (Mk 1,15) – hier und jetzt (Lk 4,21). Zu dieser Königsherrschaft gehören Heil und Friede auf allen Ebenen – mit Gott, Mitmenschen, Schöpfung und mit sich selber – auch dazu. Das Zentralste aber ist, dass Gott selbst in seiner Herrlichkeit hier und jetzt aufleuchtet. „Die Zeit ist erfüllt“: Diese „Fülle der Zeit“ besteht in der Gegenwart Gottes. Und diese Gottes-Gegenwart leuchtet in der Begegnung mit Jesus Christus auf: nicht nur durch seine Worte, nicht nur durch seine Taten, sondern durch seine ganze Erscheinung: in einem Aufstrahlen und Durchscheinen von Gottes Herrlichkeit. Nur von diesem göttlichen Strahlen her – das bei seiner Verklärung körperlich sichtbar wurde (Mt 17,2) – ist es verständlich, dass bodenständige Fischer alles liegen und stehen lassen konnten, um ihm nachzufolgen.
Die Mitte und Fülle von Gottes Herrlichkeit ist nicht irgendein Wissen, nicht irgendeine Wirkung (Heilung, Befreiung), sondern Gott selbst, – als Macht über alle Mächte und als Liebe über alle Liebe: unser Vater im Himmel. „Dein Reich komme“: Sein Reich („Himmelreich“) oder Seine Herrschaft („Gottesreich“) ist ein Zustand, wo die Geschöpfe in ihrer Freiheit ganz Ja zu ihm sagen. So kann sich Gottes Herrlichkeit über die Geschöpfe ausbreiten und sie durchdringen. Dieser Zustand ist im Himmel vollkommen erfüllt. Das ist ja die Bedeutung des Wortes „Himmel“: Himmel ist ein Ort, eine Situation, eine Ordnung, in der alle Beteiligten mit ihrer Freiheit sich restlos in einem Ja zu Gott, zu Seiner Liebe und Macht, Schönheit und Wahrhaftigkeit verausgaben, und so selber ganz Liebe und Macht, Schönheit und Wahrhaftigkeit sind.
Dieser himmlische Zustand wird auf Erden Wirklichkeit, indem alle Menschen ein entschiedenes und restloses Ja zu Gott sprechen. Dass das gerade jetzt geschieht, das meint Jesus, wenn er sagt: „Die Königsherrschaft Gottes ist zum Greifen nahe gekommen“ (Mk 1,15).
Und das ist es, was Johannes im Aufblick zum Himmel und im Vorblick auf die himmlische Vollendung als bereits erfüllt sieht:
„Und alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, unter der Erde und auf dem Meer, alles, was in der Welt ist, hörte ich sprechen: Ihm, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm gebühren Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit.“ (Offb 5,1)
Und das ist es auch, was Jesus uns auffordert zu erbitten, dass es endlich kommt:
„Unser Vater im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe,
wie im Himmel so auf Erden.“
Gott ist gegenwärtig – und sein Reich zum Greifen nahe
Christen – auch Theologen – sind immer wieder von einer Frage irritiert: Ist das Heil, die Erlösung schon gegenwärtig oder noch ausstehend, zukünftig? Jesus ist doch schon gekommen; er ist im Sakrament gegenwärtig, und doch erwarten wir seine Ankunft – „bis du kommst in Herrlichkeit“. Sein Heiliger Geist ist doch schon über die Kirche ausgegossen, wie sollen wir dann um Sein Kommen, Seine Ausgießung oder Neuausgießung bitten? Wir sind doch schon erlöst, durch Kreuz, Auferstehung und Geistsendung? Aber wie viel von Erlösung ist bereits erfahrbare Wirklichkeit?
Das sind sehr weit reichende, grundsätzliche Fragen, die viel mit der einfachen Bitte zu tun haben: „Herr, lehre uns beten“. Denn im Vaterunser wendet Jesus unseren Blick auf die Gegenwart des herrlichen Gottes und himmlichen Vaters. Wir anerkennen ihn als gegenwärtig im Himmel und bitten um Seine Ankunft auf Erden. Aber er ist doch schon gekommen?!
Tatsächlich erfahren wir immer wieder Gottes Ankunft: Augenblicke der Begegnung mit Gott, in denen der Himmel die Erde berührt.
„Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.“ (Offb 3,20)
Immer wieder, nicht selten in unscheinbaren Situationen, geschieht es, dass Menschen Seine Stimme hören, dass sie die Tür öffnen, und dass Jesus – und mit ihm sein himmlischer Vater – bei ihnen eintritt und Mahl hält. Wenn Gott bei den Menschen anklopft und Sein Ja auf ein Ja von Menschen stößt, dann kommt Gott auf dieser Welt an, dann kommt Begegnung zustande, dann „zündet es“. Wer bei einem solchen Ereignis dabei steht, kann von diesem Funken angesteckt werden und selber zu brennen beginnen. Der Funke springt über, und das Reich Gottes – der Himmel auf Erden – beginnt sich auszubreiten. Aber immer wieder geschieht es, dass Menschen nicht disponiert sind, dass ihnen die Kosten zu hoch sind, die Nachteile in dieser Welt zu groß, und dass so das einladende Ja Gottes auf ein Nein von Menschen stößt. Fehlzündung! Das ist der Punkt, an dem das Feuer erlischt und die Ausbreitung des Gottesreichs – in Raum und Zeit, in Seele und Gemeinschaft – zum Stillstand kommt.
Dass das nicht passiert, sondern dass wir bereit sind und seinen Funken – das Ja Jesu zum Ja des himmlischen Vaters – aufnehmen können in der Weite und Tiefe unserer Seele, in der Weite und Tiefe unseres Lebens, in der Weite und Tiefe aller irdischen Wirklichkeit: Dafür beten wir im Vaterunser. So zu beten, lehrte Jesus die Jünger, und so zu beten lehrt er uns. Jesu Auftrag war es, Feuer auf die Erde zu werfen, und seine tiefste Sehnsucht war es, dass es endlich brennt (Lk 12,49). In diese Bitte stimmen wir mit dem Vaterunser ein.
Der zweite Teil des Vaterunser
Alles andere – die Nöte und Bedürfnisse dieser Welt – erscheinen von dieser himmlischen Mitte her in einem neuen Licht.
„Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33)
So reduzieren sich unsere irdischen Sorgen auf unsere elementarsten Bedürfnisse „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Und dies ohne wirkliche Besorgnis, „denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,8). Was wirklich zählt, ist allein, dass keine Blockade zwischen Gott und uns ist: „Vergib uns unsere Schuld“ – und dass es keine Blockaden zu unseren Mitmenschen gibt, denn diese sind es, die den Zugang zu Gott verstellen: „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.
Führt Gott in Versuchung?
Auch der Schluss des Vaterunser hat mit der Auflösung und Vermeidung von Blockaden zu tun, für eine ungehinderte Kommunikation mit unserem himmlischen Vater:
„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“
Hier haben Beter immer wieder Schwierigkeiten. Führt uns denn Gott in Versuchung? Der Sinn dieser Bitte erschließt sich erst aus der gewandelten Perspektive, die uns der erste Teil des Vaterunser eröffnet: Von Gott und Seiner himmlisch vollendeten Wirklichkeit her wird sich alles, was in dieser Welt geschehen ist, als von ihm geführt erweisen, – auch Situationen der Versuchung.
Allerdings: All das Leid und Böse, das unsere Welt und unseren Glauben an einen guten Gott verdunkelt, ist nicht von Gott verursacht! Seit Beginn der Heilsgeschichte weist Gott Wege des Heils. Wenn Menschen diese Wege Gottes nicht beschreiten und so Unheil für sich und andere bewirken, dann ist das nicht von Gott gewollt! Dennoch ist Gott nicht machtlos gegen das Böse. Wo Unrecht geschieht, schlägt Er zwar nicht wie der Blitz drein, denn Er will die Menschen – gerade auch die Sünder – retten, nicht vernichten. Vielmehr offenbart Er uns immer wieder neu und immer tiefer das Licht Seiner Gegenwart in Liebe und Wahrhaftigkeit – manchmal zu unserer Freude, manchmal auch zum Gericht –, sodass jeder, selbst der schlimmste Sünder, Chancen bekommt, in Freiheit umzukehren und so für Gottes Reich gerettet zu werden. Auf diesen Wegen können auch Situationen von Leid und Schuld „Durchbrüche“ auslösen. Immer wieder können Menschen davon Zeugnis geben, dass bittere Zeiten sich rückblickend als heilvoll erwiesen haben. Allerdings sind solche Einsichten eines letztendlich zum Guten wirkenden Unglücks oder einer „glücklichen Schuld“ meist nur seltene Ausnahme. Aber diese Ausnahmen offenbaren etwas von der erlösenden Handschrift Gottes, von der wir glaubend und hoffend bekennen können, dass sie letztlich überall am Werk ist. Allenthalben ist Gott erlösend am Werk, wenn auch meist im Verborgenen. Damit Er die Menschen erlösen kann ohne ihre Freiheit (auch sündige Freiheit) zu zerbrechen, braucht er Zeit. Er lässt zahllose Umwege zu, die mit Leid und Schuld belasten und nicht hätten sein müssen.
Durch Jesus Christus und seinen Kreuzestod führt Gott uns durch Leid und Schuld hindurch. Er ist dabei, wenn Menschen leiden und schuldig werden, weil Er mit ihnen – mit uns – mitgeht. Wer am Ende der Tage, nach dem Jüngsten Gericht, das Ziel des Lebensweges – die himmlische Seligkeit – erreicht hat, wird im Blick zurück auf seine verschlungenen, leid- und schulderfüllten Lebenswege erkennen: Gott war immer dabei; er hat mich getragen und geführt, auch durch Unheil, Versuchung und Scheitern hindurch. Und das heißt gerade nicht, dass Er all das Negative bewirkt hat. Aber Er geht mit und lenkt, behutsam.
Im Vaterunser nehmen wir diese Perspektive des Himmels, der Vollendung vorweg. Bei allem, was wir gegenwärtig erleben und unmittelbar vor uns haben, wissen wir: Gott geht mit uns mit und wird zu unserem Heil wirken. Ganz gleich, ob wir auf Gottes Wegen bleiben oder Ihn schmählich verraten. Wenn wir in Versuchung geraten, so wissen wir zwar, dass das nicht direkt von Gott bewirkt ist:
„Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und er führt auch selbst niemand in Versuchung. 14 Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt.“ (Jak 1,13-14)
Aber wir wissen auch, dass Gott mit uns mitgeht, wenn wir auf Abwege gehen. Und wir wissen, dass Er – mitgehend – einen Einfluss darauf hat, wo wir hingehen, – wenn wir ihm diesen Einfluss auf unser Leben erlauben. So können wir demütig – wissend um unsere Schwäche und Fehlbarkeit – beten: „Vater, führe uns so, dass wir nicht auf Abwege geraten“ oder kurz: „Führe uns nicht in Versuchung“.
Denn dein ist das Reich ...
Die Didache oder Zwölf-Apostel-Lehre, einer der ältesten frühkirchlichen Texte, ergänzt das Vaterunser mit einem liturgisch-hymnischen Ausruf:
„Denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen!“
Dieser Ausruf hat sich mit gutem Recht in der Liturgie und im christlichen Gebetsleben als Abschluss des Vaterunsers durchgesetzt. Abschließend bringt er die Anfangsperspektive – den Blickwechsel auf Gott und sein Reich, das sich siegreich in dieser Welt durchsetzt – neu zum Leuchten.
Gottes Segen!
Willibald
PS.
Herzliche Einladung zu den Weide-Einkehrtagen in Köfels/Ötztal von Palmsonntag bis Gründonnerstag. Vor allem für Menschen mit der Sehnsucht, Gott alles zu geben. Tägliche Eucharistiefeiern, Anbetung, Weide in der Zirbenstube, Impulsvorträge von Willibald, Gemeinschaft, Wanderungen ...
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